LETZTE AKTUALISIERUNG AM 27. August 2025

 

TEXT DES MONATS SEPTEMBER 2025

 

DER FJORD

 

Ich wohne in einem Haus an einem Fjord, irgendwo im nördlichsten Norden Norwegens.

Sechs Monate geht hier die Sonne nicht unter, doch dafür bleibt es anschließend sechs Monate lang dunkel.

Um in der Zeit der Dunkelheit nicht depressiv zu werden, gibt es nur zwei Möglichkeiten:

Entweder, man betrinkt sich täglich, oder aber man singt fröhliche norwegische Lieder.

Leider gibt es keine fröhlichen norwegischen Lieder. Daher bleibt einem gar nichts anderes übrig, als sich zu betrinken.

Manchmal fahre ich mit meinem Boot hinaus auf den Fjord, um Fische zu fangen. Sobald die Fische mich entdeckt haben, umkreisen sie mein Boot und klatschen mit ihren silbrigen Schwänzen wieder und wieder gegen die Wand meines Bootes, um mich zu verhöhnen, doch angebissen hat bisher noch nie einer.

Wenn ich Fisch essen möchte, muss ich ihn mir wohl oder übel kaufen, und der nächste Fischmarkt ist in Hammerfest, ungefähr fünfzig Kilometer von hier entfernt.

Daher esse ich meistens nur Fertigsuppen oder trockenes Brot.

Genau mir gegenüber auf der anderen Seite des Fjordes lebt eine junge Frau ganz für sich allein, genau wie ich.

Manchmal denke ich daran, zu ihr hinüberzufahren und unter irgendeinem Vorwand ein Gespräch zu beginnen.

Zum Beispiel könnte ich sie fragen, ob sie mir nicht vielleicht einen Fisch verkaufen könnte, oder etwas Mehl oder Butter borgen.

Aber was mache ich, wenn sie nein sagt?

Das werde ich wohl nie erfahren, denn um ein Gespräch mit einer wildfremden Person zu beginnen, die mich dann womöglich für einen sexhungrigen Lüstling halten könnte, bin ich viel zu schüchtern.

Obwohl ich manchmal sogar wirklich einer bin, speziell in den endlosen Nächten des Winters.

Und manchmal träume ich davon, dass sie zu mir kommt, um unter irgendeinem Vorwand ein Gespräch mit mir zu beginnen, weil das ewige Alleinsein für sie bestimmt ebenso belastend ist wie für mich.

Wahrscheinlich wird sie mich fragen, ob ich ihr nicht vielleicht einen Fisch verkaufen könnte.

Und genau das ist auch der Grund dafür, dass ich immer noch manchmal mit meinem Boot auf den Fjord hinausfahre, obwohl es mir bisher immer versagt geblieben ist, einen zu fangen.

Oder vielleicht begegnen wir uns irgendwann einmal in der Mitte des Fjordes, ich in meinem Boot sitzend und sie in dem ihren.

„Einen wunderschönen Tag wünsche ich Ihnen“, werde ich sagen.

„Wie viele wunderschöne Tage haben Sie denn schon erlebt, seit Sie hier an diesem gottverdammten Fjord leben?“, wird sie erwidern.

„Bisher noch keinen“, werde ich antworten. „Und Sie?“

„Auch noch keinen“, wird sie erwidern.

Und dann werden wir alle beide darüber lachen und spontan beschließen, den Rest des Tages gemeinsam zu verbringen, und vielleicht sogar noch die darauf folgende Nacht, auch wenn sie hier im hohen Norden sechs Monate lang dauert.

Aber das wird wohl nie geschehen.

Man muss verrückt sein, sich an einem Fjord im nördlichsten Norden Norwegens niederzulassen.

Aber vielleicht ist sie ja genauso verrückt. Mit Sicherheit ist sie genauso einsam wie ich.

Es ist wirklich hoch an der Zeit, sie persönlich kennenzulernen.

Sobald es wieder tagt, werde ich mit meinem Boot zu ihr hinüberrudern.

Vorausgesetzt natürlich, dass mich in den fünf Monaten bis dahin der Mut nicht wieder verlässt, wie schon so oft.

Und wenn ich dann stiefelknarrend ihre Hütte betrete, werde ich feststellen, dass sie schon lange tot ist.

 

Genau wie ich selbst.

 

TEXT DES MONATS AUGUST 2025

 

 

AUF DEM FRIEDHOF

 

Auf dem Friedhof

toter Verse

hab ich ein Gedicht gefunden,

das ich einst,

vor vielen Jahren,

für die Jugendliebe schrieb.

 

Auf dem Friedhof

toter Bilder

habe ich ein Bild gefunden,

das mir einst,

vor vielen Jahren,

meine Jugendliebe gab.

 

Auf dem Friedhof

toter Lieder

habe ich ein Lied gefunden,

das mir einst,

vor vielen Jahren,

meine Jugendliebe sang.

 

Auf dem Friedhof

toter Liebe

habe ich ein Grab gefunden,

das sie einst,

vor vielen Jahren,

für mein Herz gegraben hat.

 

 

TEXT DES MONATS JULI 2025

 

DIE ZAHNSPANGE

 

(Personen: Ein siebenjähriger Bub namens Kurti, seine Mutter und seine Oma.)

Mutter: Grüß dich, Mama.

Oma: Grüß dich, Gisi. (umarmt und küsst sie. Dann wendet sie sich Kurti zu, bückt sich zu ihm hinunter und gibt ihm die Hand.) Grüß dich, Kurti. Du bist aber groß geworden.

Kurti: Grüß dich, Oma.

Mutter: Gib deiner Oma ein Bussi, Kurti.

Kurti: Nein.

Mutter: Aber Kurti! Na los!

Kurti: Mag nicht.

Oma: Lass ihn doch, wenn er nicht will...

Mutter: Nein, Mama. Es ist lieb, dass du das sagst, aber der Bub ist jetzt sieben Jahre alt und da muss er lernen, was sich gehört. Und es gehört sich einfach, dass man seiner Oma zur Begrüßung ein Bussi gibt. Also, Kurti, jetzt mach endlich! Stell dich nicht so an!

Kurti: Mag aber nicht.

Mutter: Ich versteh das nicht, normalerweise ist er so höflich...warum magst du denn der Oma kein Bussi geben, Kurti?

Kurti: Wenn ich das sage, bist du böse.

Mutter: Aber nein, ganz bestimmt nicht. Grosses Ehrenwort. Also, Kurti? Warum magst du der Oma kein Bussi geben?

Kurti: Weil die Oma so grauslich ist. Sie sabbert so grauslich...

Mutter: Oh... entschuldige, Mama, der Bub meint es nicht so.

        Hör mal, Kurti, das ist einfach nicht wahr. Deine Oma sabbert nicht. Sie spuckt höchstens manchmal ein bisschen, weil ihr Gebiss schlecht sitzt.

        Ach ja, siehst du, deshalb ist es ja so wichtig, dass du jetzt eine Zahnspange bekommst, damit es dir nicht eines Tages auch so geht wie der Oma.

Mutter: Du darfst ja nicht glauben, dass es ihr Spaß macht, dass sie so spuckt. Und wenn sie als Kind eine Zahnspange bekommen hätte, dann würde sie jetzt nicht so spucken, stimmt’s, Mama?

Oma: Ich...aber ich spucke doch gar nicht so.

Mutter: Willst du mir etwa vor dem Kind in den Rücken fallen? natürlich spuckst du. Bei jedem ‘s’ oder ‘sch’ oder ‘Z’ spuckst du. Und wenn du als Kind eine Zahnspange bekommen hättest, dann würdest du jetzt nicht so spucken. Stimmt’s?

Oma: Also...also gut, das stimmt. Ja. Dann würde ich nicht so spucken.

Mutter: Da hörst du’s, Kurti. Und jetzt gib deiner Oma endlich ein Bussi.

Kurti: Aber sie ist doch so grauslich! Das hast du selbst gesagt!

Mutter: Nein, das habe ich nicht gesagt. Ich habe nur gesagt, dass sie spuckt, weil sie als Kind keine Zahnspange bekommen hat. Außerdem musst du ihr ja kein Bussi auf den Mund geben, wenn du nicht magst. Es genügt, wenn du ihr ein Bussi auf die Wange gibst.

Kurti: Mag aber nicht. Wo sie doch so grauslich ist!

Mutter: Jetzt reißt mir aber schön langsam die Geduld mit dir, Kurti! Wenn du jetzt nicht auf der Stelle deiner Oma ein Bussi gibst, dann werde ich ernstlich böse!

Oma: Bitte, Gisi, ich möchte wirklich nicht...

Mutter: Nein, Mama, weil hier geht’s ums Prinzip. Er muss einfach lernen, dass es im Leben auch Pflichten gibt, und dass man sich da nicht einfach drücken kann, auch wenn einem noch so sehr graust.

        Hör mal, Kurti, die Oma hat sicher einen guten Kuchen für uns gebacken, und wenn du ihr jetzt ein Bussi gibst, kriegst du ein besonders großes Stück...

Kurti: Ich mag keinen Kuchen! Pfui! Nicht von der Oma! Weil da ist sicher Spucke von ihr drauf.

Mutter: Aber nein, Kurti, ganz bestimmt nicht. Weil deine Oma spuckt nur, wenn sie spricht, und beim Kuchenbacken spricht sie ja nicht, stimmt’s, Mama?

Oma: Weißt du was, Gisi? Mir reicht’s. Wie du dauernd auf meinen Gefühlen herumtrampelst, das...

Mutter: Wieso ich? der Bub! Und das...

Oma: Nein, nicht der Bub, der Bub kann nichts dafür. Es stimmt ja, dass ich manchmal eine feuchte Aussprache habe, das weiß ich selbst, aber bis jetzt hat das noch keinen gestört. Und wenn du es ihm nicht gesagt hättest, dann hätte er es wahrscheinlich überhaupt nicht gemerkt.

Mutter: Schön, zugegeben, das weiß er von mir, aber ich habe es ihm doch nur gesagt, damit er einsieht, dass seine Zahnspange wirklich wichtig für ihn ist.

Oma: Das ist mir egal, warum du das gesagt hast, aber jedenfalls hat mich das jetzt sehr gekränkt. Und deshalb möchte ich, dass ihr jetzt geht. Ihr könnt mich natürlich wieder mal besuchen, aber für heute reicht es mir.

        Für heute reicht es mir wirklich.

Mutter: Du bist aber vielleicht empfindlich! Aber bitte, ganz, wie du willst. Wenn wir hier nicht erwünscht sind, dann gehen wir eben. Komm, Kurti.

(Sie nimmt ihren Sohn an der Hand und verlässt die Wohnung. Die Oma schließt hinter ihnen die Tür und beginnt zu weinen.)

(Draußen)

Kurti: Du, Mama?

Mutter: Ja, Kurti?

Kurti: Sag, Mama, war die Oma immer schon so komisch?

Mutter: Nein, Kurti. Früher nicht. Früher war sie wirklich lieb. Sie ist erst so geworden, seit sie so spuckt.

Mutter: Und schuld daran ist, dass sie als Kind keine Zahnspange gehabt hat, du hast es ja gehört, das hat sie selbst zugegeben.

 

        Siehst du, Kurti, und deshalb ist es ja so wichtig, dass du eine Zahnspange bekommst. Damit du nicht später auch einmal so komisch wirst...

TEXT DES MONATS JUNI 2025

 

EIN FEUER

 

Ein Feuer brennt

in meinem Innern

von frühester

Jugend an.

Von A bis Z

von Spitz auf Knopf

oben am Berg

unten im Tal

ja, selbst unter Wasser,

bei den Fischen,

als wäre es

phosphoresziert.

 

Ein Feuer brennt

in meinem Innern

unauslöschlich

und heiß.

Von eins bis zehn

vom Start zum Ziel

drüben im Feld

droben im Wald

ja, selbst im Krater

des Vulkans

als wäre es

dort geboren.

 

Und vielleicht

ist es das.

Vielleicht bin ich

ein Vulkan.

 

 

TEXT DES MONATS MAI 2025

 

DIE DUNKLE LAMPE

 

Auf meinem Schreibtisch steht eine Lampe, die Dunkelheit spendet.

Sobald ich sie einschalte, wird es deutlich dunkler in meinem Zimmer.

Die einzige Lichtquelle ist der Bildschirm meines Computers, aber sie reicht nicht bis zu meiner Tastatur, über der es daher so dunkel ist wie in einer Gruft.

Glücklicherweise finde ich mich auch blind auf ihr zurecht, sodass ich in neunundneunzig von hundert Fällen die richtige Taste treffe.

Ich bin überhaupt nicht gut im Multi-Tasking.

Wäre es nicht so dunkel in meinem Zimmer, ich könnte mich nicht auf den Text in meinem Kopf konzentrieren, sondern würde zu der Musik in meinen Ohren tanzen.

Damit wäre keinem geholfen.

Daher bleibt meine dunkle Lampe immer so lange in Betrieb, bis ich mit einer Geschichte fertig bin.

Erst dann schalte ich sie wieder ab, woraufhin sich mein Zimmer mit gleißend hellem Licht füllt, als ginge ein Engel gerade an mir vorüber.

„Bist du ein Engel?“, frage ich, ohne mir eine Antwort zu erwarten.

Und ich bekomme auch keine.

Ich nutze das gleißend helle Licht, um die Spinnweben von meinen Wänden zu entfernen, die mir während des Schreibens verborgen geblieben sind.

Dann schalte ich das dunkle Licht wieder ein.

Über meiner Tastatur ist es so dunkel wie in einer Gruft. Meine Gedanken sind so düster wie die eines Diktators.

 

Kein Engel weist mir den Weg von einer Zeile zur nächsten.

 

TEXT DES MONATS APRIL 2025 

 

HIRTE UND BAUER

 

Ich will kein Hirte sein,

der seine Schafe weidet,

um sie zur Schlachtbank

zu treiben.

 

Ich will ein Bauer sein,

der erntet, was er sät.

 

Ich will kein Hirte sein,

der den Wolf erschlägt,

um seinem nutzlosen Sohn

ein Kälbchen zu schlachten.

 

Ich will ein Bauer sein,

der erntet, was er sät.

 

Ich will kein Hirte sein,

der auf der Flöte spielt

und seine Schweineherde

Dämonen überlässt.

 

Ich will ein Bauer sein,

der erntet, was er sät.

 

 

 

 

 

TEXT DES MONATS MÄRZ 2025

 

ABSCHIED

 

Mutter steht am Bahnsteig und sieht mich an.

Ihr Blick hat etwas Verlassenes, etwas Wehmütiges, etwas Tieftrauriges an sich, ganz so, als wäre es ein Abschied für immer.

Und mit einem Mal begreife ich, was sie denkt.

Sie fürchtet, dass ich von dieser langen Reise nicht mehr wiederkehren werde, und je länger wir hier stehen und warten, desto größer wird ihre Furcht, dass ich in der Fremde sterbe, bis sie fast schon Gewissheit ist.

Und als ich in den Zug steige, beginnt sie zu weinen, so, als stünde sie an meinem Sarg, und diesmal tadle ich sie nicht.

Ich weiß, dass sie nicht weint, weil sie mich nun einen Monat nicht sehen wird.

 

Sie weint, weil sie glaubt, dass sie mich nie wieder sehen wird, und der Zug, in den ich steige, ist in diesem Moment für sie tatsächlich nichts anderes als ein Sarg.

TEXT DES MONATS FEBRUAR 2025

 

DER FRÜHLING

 

Der Frühling ist da

mit blühenden Blumen.

Der Pfad ist mit

leuchtenden Tüchern bespannt.

 

Mit leuchtenden Tüchern

und Wohlgerüchen.

Die Mädchen eilen

hinunter zum Fluss.

 

Der Fluss ist gewaltig

und göttergleich.

Die Blicke wandern

die Wellen entlang.

 

Die Wellen wogen

wie leuchtende Tücher.

Der Frühling ist

eine Lügnerin.

 

 

 

TEXT DES MONATS JANUAR 2025

 

 DIE GELIEBTE

 

Meine Geliebte wohnt in einer Hütte am Gipfel eines Berges.

Es gibt keine Seilbahn und auch keine Autostraße, die dorthin führt, sondern nur einen Wanderweg.

Vom Fuß des Berges bis zum Gipfel benötigt man zwei Stunden, wenn man, wie ich, ein geübter Fußgänger ist, doch was tut man nicht alles für die Liebe?

An jedem Samstag besuche ich sie in ihrer Hütte am Gipfel des Berges, verbringe die Nacht mit ihr und kehre am Sonntag glücklich und zufrieden wieder ins Tal zurück.

Ach ja, die Liebe!

Und wieder einmal ist es Samstag. Wieder einmal mache ich mich auf den Weg zu ihr und komme nach zwei Stunden verschwitzt, hungrig, durstig und geil bei ihr an.

Sie gibt mir einen Kuss zur Begrüßung und stillt meinen Durst mit eiskaltem Wasser aus einem tönernen Krug.

Anschließend muss ich mich waschen, weil ich von meiner Wanderung ja total verschwitzt bin.

Leider gibt es hier am Gipfel des Berges kein fließendes Wasser, weshalb ich mich mit dem eiskalten Wasser aus dem Brunnen reinigen muss. Aber was tut man nicht alles für die Liebe?

Zu essen bekomme ich alten Ziegenkäse mit frischer Ziegenmilch, wobei es mir schwer fallen würde, mich zu entscheiden, was davon ich mehr verabscheue.

Aber dann, endlich, ist es Zeit für die Liebe.

Ich beginne bereits, mich zu entkleiden, da sagt sie plötzlich:

„Heute nicht. Ich habe ganz schreckliches Kopfweh. Tut mir leid.“

Mir ist zumute, als hätte sie mich soeben mit einem Kübel kalten Wassers übergossen. Und, glauben Sie mir, ich weiß, wie sich das anfühlt!

„Schade. Dann vielleicht morgen früh“, sage ich, wobei es mich gehörig viel Mühe kostet, meine Enttäuschung zu verbergen.

„Nein. Sicher nicht“, sagt sie. „Ich möchte nämlich, dass du mich heute noch wieder verlässt.“

„Aber es ist doch schon stockdunkel draußen“, wende ich ein.

„Ja, schon“, sagt sie. „Aber mittlerweile kennst du doch den Weg fast schon auswendig, oder?“

„Ja, vielleicht“, sage ich. „Aber eben nur fast. Womöglich breche ich mir beim Abstieg sämtliche Knochen. Kann ich nicht vielleicht doch bis morgen bleiben?“

„Das ist leider völlig ausgeschlossen, weil morgen Vormittag mein neuer Geliebter kommt“, sagt sie. „Und es wäre nicht gut für dich, wenn ihr euch womöglich begegnet, weil er so eifersüchtig ist wie Othello.“

„Und womöglich auch so schwarz?“, frage ich.

Zugegeben: Das war keine besonders intelligente Frage, und vielleicht sogar etwas rassistisch, aber immerhin hatte ich soeben etwas sehr Unerfreuliches erfahren.

„Aber nein. Er ist Mexikaner“, antwortet sie.

„Also ein schurkischer Mestize?“

„Ganz genau. Das ist er“, sagt sie. „Also mach dich jetzt lieber auf den Heimweg, bevor es womöglich noch dunkler wird. Leb wohl und auf Nimmerwiedersehen.“

Für den Abstieg ins Tal benötigte ich mehr als fünf Stunden, aber ich bin froh und glücklich, ihn unverletzt überstanden zu haben.

Ich werde meine ehemalige Geliebte nie wieder besuchen. Für mich existiert sie nicht mehr.

Somit brauche ich jetzt dringend eine neue Geliebte, und zwar eine, die möglichst wenig mit meiner Verflossenen zu tun hat.

Wahrscheinlich werde ich mich für eine U-Boot-Kommandantin entscheiden.

 

 

 

TEXT DES MONATS DEZEMBER 2024

 

VISION EINERS GEWITTERS

 

Wenn es donnert und wenn es blitzt

seh ich manchmal hinaus

und sehe den Regen niederrinnen

an den Scheiben aus Glas.

 

An den Scheiben aus Glas rinnt das Wasser

und die Ströme seh’n aus wie Finger,

die da draußen nach innen tasten,

mich zu ergreifen.

 

Mich zu ergreifen tasten sie,

doch bin ich in Sicherheit.

Die Tropfen seh’n aus wie Gesichter

so bleich, als würden sie leiden.

 

So bleich, als würden sie leiden

als gäb’s keine Rettung für sie

denn sie müssen draußen bleiben

und der Sturm pfeift dazu ein Lied.

 

Der Sturm pfeift dazu ein Lied,

die Fenster klirren zuweilen,

die Bäume biegen sich weit,

die Äste stöhnen im Sturme.

 

Die Äste stöhnen im Sturme

getaucht in Gewitterlicht.

Der Donner durchdringt das Getöse

lässt mich trotz der Wärme schaudern.


Lässt mich trotz der Wärme schaudern,

doch bliebe ich unberührt,

wären da nicht die Gestalten

die da zucken und beben draußen.

 

Die da zucken und beben draußen,

ich sehe sie an und ich fühle

schwerdumpfen Schmerz im Magen

und es ruft so laut der Wind.

 

Es ruft so laut der Wind,

das Licht erlischt im Zimmer.

Blitz und Donner regieren

und draußen zucken Gestalten.

 

Und draußen zucken Gestalten,

und ich muss sie immerzu sehen.

Am Fenster hängen Tropfen

und der Himmel ist gelbgrau licht.

 

Der Himmel ist gelbgrau licht

und heller wird’s langsam draußen.

Ein Donner zerreißt noch das Treiben,

die Gestalten sinken hernieder.

 

Die Gestalten sinken hernieder

und ich fühl mich schrecklich müde.

Vielleicht bin ich eine von ihnen

und tanze wie sie im Regen. 


Und tanze wie sie im Regen

während Äste im Sturme stöhnen

während Finger an Fenstern kratzen

während Tropfen wie Tränen sind,

 

während Tropfen wie Tränen sind.

 

TEXT DES MONATS NOVEMBER 2024

 

GUTE GEISTER

 

Es war einmal ein Mann namens Konstantin, der glaubte felsenfest an die Existenz guter Geister, und das durchaus nicht ohne Grund:

Jedes Mal, wenn er von seiner Arbeit nach Hause kam, stand sein Essen bereits fix und fertig auf dem Tisch.

Wenn seine Wäsche schmutzig war, genügte es, sie in einen Schmutzwäschebehälter zu werfen, und bald darauf fand sie sich frisch gewaschen und gebügelt in seinem Kleiderkasten wieder.

Sämtliche Böden seiner Wohnung waren blitzsauber, die Möbel frei von Staub, und an seinen Wänden gab es nicht einmal die kleinste Spur von Spinnweben.

Sogar um die Beseitigung seiner Abfälle kümmerten sich seine guten Geister, wenn er nicht zu Hause war, und wenn sein Biervorrat zur Neige ging, fand sich stets tags darauf schon wieder eine neue Kiste in seiner Vorratskammer.

Eines Tages nun starb Konstantins Frau urplötzlich und unerwartet an einem Herzinfarkt, und seit ihrem Tod veränderte sich alles in seinem Leben zum Schlechteren:

Wenn er von der Arbeit nach Hause kam, stand nun kein Essen mehr auf dem Tisch, seine Wäsche musste er selber waschen und bügeln, die Böden verdreckten, die Möbel verstaubten und die Zahl der Spinnen an seinen Wänden war Legion.

Auch um seine Biervorräte musste er sich nun selbst kümmern, ebenso wie um die Beseitigung seiner Abfälle, auf die er freilich meistens vergaß.

Schon nach einem knappen Monat war seine Wohnung nicht wiederzuerkennen. Sie glich nun eher der Absteige eines Mietnomaden.

Kein Mensch konnte sich unter diesen Bedingungen mehr wohl fühlen.

„Deine Frau fehlt dir offenbar sehr“, bemerkte ein guter Freund mitfühlend, der ihn in seinem Saustall besuchte. 

 

„Meine Frau fehlt mir überhaupt nicht, wenn du es genau wissen willst“, antwortete er mürrisch. „Nicht genug damit, dass sie gestorben ist, hat mir diese blöde Kuh mit ihrem Tod jetzt auch noch meine guten Geister vergrault.“

 

TEXT DES MONATS OKTOBER 2024

 

MEIN WEG

 

Ich gehe nicht

den krummen Weg

der höflichen Lüge.

Ich gehe

den geraden Weg

der taktlosen Wahrheit.

 

Die Wegbegleiter

sind mir längst schon

abhandengekommen.

Die Mühen der Ebene

sind die

 

der Wüste.