LETZTE AKTUALISIERUNG AM 27. Juni 2024

 

TEXT DES MONATS JULI 2024

 

DER STOLZE VATER

 

Es war einmal ein Vater, der hatte vier Kinder, drei Söhne und eine Tochter, auf die er alle sehr stolz war.

Sein ältester Sohn war Arzt und hatte ein Heilmittel gegen Krebs entwickelt, das unzähligen Menschen das Leben gerettet hatte. Sein zweiter Sohn war Strafverteidiger und hatte schon unzählige Angeklagte vor dem sicheren Gefängnis bewahrt.

Sein dritter Sohn war Bäcker und buk das mit Abstand leckerste Gebäck weit und breit.

Und seine Tochter war die beste Prostituierte im ganzen Land. Nach einem Besuch bei ihr waren ihre Kunden immer so zufrieden, dass ihnen allein schon der Gedanke an Sex noch wochenlang Brechreiz verursachte.

Eines Tages nun lud der stolze Vater seine vier Kinder zu sich ein und sprach zu ihnen wie folgt:

„Meine lieben Kinder, ich bin stolz auf euch. Du, mein ältester Sohn, hast durch dein segensreiches Wirken als Arzt schon vielen Menschen das Leben gerettet. Du, mein zweiter Sohn, hast als Strafverteidiger schon unzählige Mandanten vor dem sicheren Gefängnis bewahrt.

Und du, meine Tochter, giltst als beste Prostituierte dieses Landes.

Auch du, mein dritter Sohn, bist als Bäcker durchaus ein nützliches Mitglied der Gemeinschaft, doch im Vergleich mit deinen Geschwistern bist du eigentlich, verzeih mir meine Offenheit, ein ziemlicher Versager. Aber noch ist es nicht zu spät für einen Berufswechsel. Was würdest du beispielsweise davon halten, das Bäckerhandwerk an den Nagel zu hängen und ein berühmter Filmschauspieler zu werden?“

„Das könnte ich freilich tun“, sagte der Bäcker. „Aber dann müssten meine treuen, zufriedenen Kunden mit dem minderwertigen Backwerk meines Nachfolgers vorlieb nehmen, und das würden sie mir vermutlich sehr verübeln. Davon abgesehen scheinst du die Leistungen meiner Geschwister doch erheblich zu überschätzen.

Freilich stimmt es, dass mein ältester Bruder durch sein Heilmittel gegen Krebs schon vielen Menschen das Leben gerettet hat, doch kaum einer der Geretteten hat die zusätzliche Lebenszeit wirklich sinnvoll genützt.

Es ist auch richtig, dass mein zweiter Bruder als Strafverteidiger unzählige Menschen vor dem sicheren Gefängnis bewahrt hat, doch die meisten von ihnen waren gefährliche Kriminelle, die durch das Wirken meines Bruders auch weiterhin Mord und Todschlag verüben konnten – und Schlimmeres.

Und was dich, liebe Schwester, anbetrifft, so bist du zweifellos die beste Prostituierte im ganzen Land, doch hast du gerade dadurch, dass deine Klienten nach einem Besuch bei dir so zufrieden  sind, dass ihnen der Gedanke an Sex noch wochenlang Brechreiz verursacht, schon zahllose Ehen gefährdet, wenn nicht sogar zerstört.

Ich hingegen gebe mich damit zufrieden, knuspriges Gebäck zu backen, das mit Sicherheit noch keinem Menschen geschadet hat.

So gesehen bin ich vielleicht sogar der Nützlichste deiner Kinder, Vater.“

 

„Da hast du eigentlich vollkommen recht“, sagte der Vater. „Verzeih, dass ich an dir gezweifelt habe. Für dich gibt es heute einen Kalbsbraten. Ihr anderen aber seid in Wahrheit alle eine Schande für meinen Namen. Verlasst also dieses Haus und kommt nie wieder, denn ihr seid mir nicht länger willkommen.“

TEXT DES MONATS JUNI 2024

 

DAS GUT VON MIR

 

Das Gut von mir

ist nicht das Gut von dir

und nicht das Gut von ihr

und nicht das Gut

von sonstnochwem.

 

Das Glück von mir

ist nicht das Glück von dir

und nicht das Glück von ihr

und nicht das Glück

von sonstnochwem.

 

Die Zeit von mir

ist nicht die Zeit von dir

und nicht die Zeit von ihr

und nicht die Zeit

von sonstnochwem.

 

Das Ziel von mir

ist nicht das Ziel von dir

und nicht das Ziel von ihr

und nicht das Ziel

von sonstnochwem.

 

Der Tod von mir

ist nicht der Tod von dir

und nicht der Tod von ihr

und nicht der Tod

von sonstnochwem.

 

Es ist mein eigener Tod.

Nach Gut und Glück,

nach Zeit und Ziel

ist es

 

mein eigener Tod.

 

TEXT DES MONATS MAI 2024

 

DREI MÜTTER

 

Es waren einmal drei Mütter, die ritten auf drei Kälbern hinaus in die weite Welt.

„Wer kümmert sich eigentlich um eure Kinder, während ihr unterwegs seid?“, fragte schließlich eine von ihnen die beiden anderen, nachdem sie bereits einen Tag lang unterwegs waren.

„Um Gottes willen. Keiner!“, riefen die beiden Mütter. „Und wer kümmert sich um dein Kind?“

„Um Gottes willen. Keiner!“, rief die Mutter.

So schnell ihre Kälber sie trugen kehrten die drei Mütter nach Hause zurück, doch dort fehlte von ihren Kindern jede Spur.

„Möglicherweise haben die Väter ihre Kinder zu sich genommen“, vermutete eine der Mütter.

„Ja. Das könnte sein“, sagten die beiden anderen.

Gemeinsam machten sie sich auf die Suche nach den Vätern.

Als sie die Väter fanden, waren diese gerade damit beschäftigt, weitere Kinder zu zeugen.

„Was wollt ihr denn hier?“, fragten die Väter.

„Wir sind auf der Suche nach unseren Kindern“, erklärte eine von ihnen. „Habt ihr sie vielleicht zu euch genommen?“

„Nein, das haben wir nicht“, antwortete einer der Väter stellvertretend für alle drei. „Habt ihr sie etwa verloren?“

„Sieht ganz so aus“, sagte eine der Mütter.

„Wenn ihr die Kinder nicht mehr habt, dann brauchen wir auch keine Alimente mehr für sie zu bezahlen“, sagte einer der Väter stellvertretend für alle drei. „So lebt denn wohl und lasst und fürderhin in Ruhe.“

Traurig und enttäuscht kehrten die drei Mütter nach Hause zurück, wo von den Kindern immer noch jede Spur fehlte.

„Ich glaube, ich weiß, was geschehen ist“, sagte die eine von ihnen schließlich. „Bis vor Kurzem hatten wir drei Kinder, aber keine Kälber. Und jetzt haben wir drei Kälber, aber keine Kinder mehr. Wahrscheinlich haben sich unsere Kinder in Kälber verwandelt.“

„Ja. Das erklärt alles. So muss es gewesen sein“, sagten die beiden anderen.

Und dann entblößten die drei Mütter ihre Brüste, und die Kälber traten zu ihnen hin und tranken davon.

„Na, gottseidank“, sagte eine der drei Mütter. „Dann ist ja jetzt alles wieder gut.“

„Ja. Gottseidank“, sagten die beiden anderen.

 

Aber wirklich glücklich und zufrieden war keine von ihnen mit dem Ausgang dieser Geschichte.

 

TEXT DES MONATS APRIL 2024

 

KEINER SOLLTE EINSAM SEIN

 

Keiner sollte einsam sein

im Sommer.

Die Seerose nicht

im kühlen Teich

und auch nicht die Libelle,

die darüber kreist.

 

Keiner sollte einsam sein

im Sommer.

Der Kaisermantel nicht

im tiefen Wald

der Eichelhäher nicht

auf seinem Baum.

 

Keiner sollte einsam sein

im Sommer.

Der Rehbock nicht

im frühen Morgenlicht

und nicht der Fuchs

in seinem Bau.

 

Keiner sollte einsam sein

im Sommer.

Die Tür ist nicht versperrt,

doch meilenweit entfernt.

Der nächste Mensch

ist nicht von dieser Welt.

 

 

TEXT DES MONATS MÄRZ 2023

 

DER ZEITLOSE RAUM

 

In meinem Haus gibt es einen winzig kleinen, fensterlosen Raum, nicht größer als eine Besenkammer, in dem die Zeit nicht vergeht.

Könnte ich mich in diesen Raum zurückziehen, um ihn nie wieder zu verlassen, so würde ich ewig leben.

Das ist freilich nicht möglich, denn ich muss arbeiten, um zu essen, und schlafen, um zu leben.

Würde ich in dem Raum meine Nächte verbringen, so könnte ich dadurch meine Lebenszeit um ein gutes Drittel verlängern, doch leider ist er viel zu klein für ein Bett. Sein gesamtes Mobiliar besteht aus einem einfachen Holzsessel.

Könnte ich meinen Computer dort aufstellen, mit dem ich meine Texte schreibe, so wäre auch dadurch viel Zeit gewonnen, doch gibt es in dem zeitlosen Raum keinen einzigen Stromanschluss, weil jede Form von Elektrizität seine Magie sofort und für immer zerstören würde.

Daher begnüge ich mich notgedrungen damit, mich hin und wieder dorthin zurückzuziehen, um im flackernden Schein einer Kerze Gedichte zu schreiben.

Genau genommen handelt es sich dabei also um zeitlose Gedichte, entstanden in einem Raum ohne Vergangenheit und Zukunft.

Weil aber ich selbst ein Kind meiner Zeit bin, so sind auch sie nichts weiter als Gedichte eines Kindes seiner Zeit, dessen Lebenszeit begrenzt ist, so wie die der brennenden Kerze, in deren flackerndem Schein ich sie geschrieben habe.

 

 

TEXT DES MONATS FEBRUAR 2023

 

UNTER PALMEN STERBEN

 

Unter Palmen einst zu sterben

erklärt man oft zum Ideal.

Ich leb lieber noch ein bisschen

und wo ich sterb` ist mir egal.

 

Denn was hat ein Mensch davon,

dessen Leib im Grab zerfällt,

wenn auf seine Ruhestätte

einer Palme Schatten fällt?

 

Trauert nicht, ihr Anverwandten,

hadert nicht mit dem Geschick,

denn selbst Meere heißer Tränen

bringen mich nicht mehr zurück.

 

Wenn ihr weint und wenn ihr klagt,

schadet ihr nur meinem Geist.

Dieser ist im Leben schon

lieber ohne Last gereist.

 

Keine Pietät lasst walten,

grabt mich ohne Feier ein.

Ich bin tot. Ihr seid am Leben.

Freut euch, selbst nicht tot zu sein.

 

Lasst den Pfarrer auf der Kanzel,

keine Predigt an meinem Grab,

keine salbungsvollen Worte,

lasst mich einfach nur hinab.

 


Tragt auch keine Trauerkleidung

mir zuliebe, denn ich weiß:

Diese Art von Kleidung ist

sommertags entsetzlich heiß.

 

Blumen auf dem Grab? Egal.

Wenn die Nachbarn es so wollen.

Ich kann sie nicht sehen, riechen,

sagt mir, was die mir noch sollen.

 

Wiese will ich sein und Erde,

schlichter Grabstein obendrauf,

bloßer Stein, naturbelassen,

der verwittert auch im Lauf.

 

Doch um eines bitt ich euch

wenn ich nicht mehr bei euch bin:

Richtet mir ein stilles Plätzchen

ein in eurem Sinn.

 

Dort könnt ihr dann Blumen pflanzen

Palmenbäume auch sogar

feierlich Choräle singen

 

dem, der ich euch war.

TEXT DES MONATS JANUAR 2024

 

 ZWÖLF ZEICHEN VON LIEBE

 

Die Sehnsucht, einander zu sehen, wenn man fern voneinander ist.

Die Freude, einander zu sehen, wenn man sich wiedersieht.

Die Sehnsucht, einander zu berühren, wenn man sich nicht berührt.

Die Freude, sich zu berühren, wenn man einander berührt.

Das nachsichtige Lächeln über die kleinen Fehler und Unzulänglichkeiten des anderen.

Der Verzicht auf in vorwurfsvollem Ton ausgesprochene Worte wie ‚immer‘, ,ständig‘, ‚wieder‘, ‚dauernd‘ und ‚nie‘.

Die Unlust, miteinander zu streiten.

Die Reue, miteinander gestritten zu haben.

Der Stolz auf die Erfolge des anderen.

Die Traurigkeit über den Kummer des anderen.

Über die gleichen Dinge lachen, über die gleichen Dinge traurig sein.

Einander nicht ändern wollen, sondern einander bedingungslos lieben. 

 

 

TEXT DES MONATS DEZEMBER 2023

 

BADEN BEI WIEN

 

Ein Turm steht

in Baden bei Wien.

Ein Turm aus Steinen,

aus blutigen Steinen,

ein Turm steht

in Baden bei Wien.

 

Ein Tier haust

in Baden bei Wien.

Ein Tier mit Krallen

und dem Bösen im Blick.

Ein Tier haust

in Baden bei Wien.

 

Ein Stein liegt

in Baden bei Wien.

Ein Stein, so glatt

und so kalt wie Eis.

Ein Stein liegt

 in Baden bei Wien.

 

Ein Baum wächst

in Baden bei Wien.

Ein Baum ohne Wurzeln

und ohne Frucht.

Ein Baum wächst

in Baden bei Wien.

 

Ein Mensch lebt

in Baden bei Wien.

Ein Mensch ohne Zukunft

und ohne Zeit.

Ein Mensch lebt

in Baden bei Wien.

 

TEXT DES MONATS OKTOBER 2023

 

LIED EINES KRANKEN VOGELS

 

Ein Singvogel bin ich gewest

ich sang für euch zu jedem Fest

doch was war zuletzt mein Lohn?

Ich erntete Undank und Hohn.

 

Drum erklingt nie mehr mein Gesang

und ihr, ihr wartet lang

doch vergeblich auf ein neues Lied

es ist vor Gram verblüht.

 

Und nach Jahren, da komm ich vorbei

doch kein Ton wird wieder neu

denn ich wurde durch euch alt

 

und sterbe sicherlich bald.

TEXT DES MONATS SEPTEMBER 2023

 

DEM TOD ENTGEGEN

 

Ich kann

auch ohne dich leben.

Ich kann auch ohne dich

am Leben bleiben.

 

Müsste ich

ohne dich leben,

müsste ich ohne dich

am Leben bleiben,

so würde ich

in engen Wänden

dem Tod

entgegenvegetieren.

 

Doch da ich

mit dir lebe

und mit dir

am Leben bleibe

kann ich,

Tag für Tag beglückt,

dem Tod

getrost entgegensehen.