LETZTE AKTUALISIERUNG AM 27. Januar 2025
TEXT DES MONATS FEBRUAR 2025
DER FRÜHLING
Der Frühling ist da
mit blühenden Blumen.
Der Pfad ist mit
leuchtenden Tüchern bespannt.
Mit leuchtenden Tüchern
und Wohlgerüchen.
Die Mädchen eilen
hinunter zum Fluss.
Der Fluss ist gewaltig
und göttergleich.
Die Blicke wandern
die Wellen entlang.
Die Wellen wogen
wie leuchtende Tücher.
Der Frühling ist
eine Lügnerin.
TEXT DES MONATS JANUAR 2025
DIE GELIEBTE
Meine Geliebte wohnt in einer Hütte am Gipfel eines Berges.
Es gibt keine Seilbahn und auch keine Autostraße, die dorthin führt, sondern nur einen Wanderweg.
Vom Fuß des Berges bis zum Gipfel benötigt man zwei Stunden, wenn man, wie ich, ein geübter Fußgänger ist, doch was tut man nicht alles für die Liebe?
An jedem Samstag besuche ich sie in ihrer Hütte am Gipfel des Berges, verbringe die Nacht mit ihr und kehre am Sonntag glücklich und zufrieden wieder ins Tal zurück.
Ach ja, die Liebe!
Und wieder einmal ist es Samstag. Wieder einmal mache ich mich auf den Weg zu ihr und komme nach zwei Stunden verschwitzt, hungrig, durstig und geil bei ihr an.
Sie gibt mir einen Kuss zur Begrüßung und stillt meinen Durst mit eiskaltem Wasser aus einem tönernen Krug.
Anschließend muss ich mich waschen, weil ich von meiner Wanderung ja total verschwitzt bin.
Leider gibt es hier am Gipfel des Berges kein fließendes Wasser, weshalb ich mich mit dem eiskalten Wasser aus dem Brunnen reinigen muss. Aber was tut man nicht alles für die Liebe?
Zu essen bekomme ich alten Ziegenkäse mit frischer Ziegenmilch, wobei es mir schwer fallen würde, mich zu entscheiden, was davon ich mehr verabscheue.
Aber dann, endlich, ist es Zeit für die Liebe.
Ich beginne bereits, mich zu entkleiden, da sagt sie plötzlich:
„Heute nicht. Ich habe ganz schreckliches Kopfweh. Tut mir leid.“
Mir ist zumute, als hätte sie mich soeben mit einem Kübel kalten Wassers übergossen. Und, glauben Sie mir, ich weiß, wie sich das anfühlt!
„Schade. Dann vielleicht morgen früh“, sage ich, wobei es mich gehörig viel Mühe kostet, meine Enttäuschung zu verbergen.
„Nein. Sicher nicht“, sagt sie. „Ich möchte nämlich, dass du mich heute noch wieder verlässt.“
„Aber es ist doch schon stockdunkel draußen“, wende ich ein.
„Ja, schon“, sagt sie. „Aber mittlerweile kennst du doch den Weg fast schon auswendig, oder?“
„Ja, vielleicht“, sage ich. „Aber eben nur fast. Womöglich breche ich mir beim Abstieg sämtliche Knochen. Kann ich nicht vielleicht doch bis morgen bleiben?“
„Das ist leider völlig ausgeschlossen, weil morgen Vormittag mein neuer Geliebter kommt“, sagt sie. „Und es wäre nicht gut für dich, wenn ihr euch womöglich begegnet, weil er so eifersüchtig ist wie Othello.“
„Und womöglich auch so schwarz?“, frage ich.
Zugegeben: Das war keine besonders intelligente Frage, und vielleicht sogar etwas rassistisch, aber immerhin hatte ich soeben etwas sehr Unerfreuliches erfahren.
„Aber nein. Er ist Mexikaner“, antwortet sie.
„Also ein schurkischer Mestize?“
„Ganz genau. Das ist er“, sagt sie. „Also mach dich jetzt lieber auf den Heimweg, bevor es womöglich noch dunkler wird. Leb wohl und auf Nimmerwiedersehen.“
Für den Abstieg ins Tal benötigte ich mehr als fünf Stunden, aber ich bin froh und glücklich, ihn unverletzt überstanden zu haben.
Ich werde meine ehemalige Geliebte nie wieder besuchen. Für mich existiert sie nicht mehr.
Somit brauche ich jetzt dringend eine neue Geliebte, und zwar eine, die möglichst wenig mit meiner Verflossenen zu tun hat.
Wahrscheinlich werde ich mich für eine U-Boot-Kommandantin entscheiden.
TEXT DES MONATS DEZEMBER 2024
VISION EINERS GEWITTERS
Wenn es donnert und wenn es blitzt
seh ich manchmal hinaus
und sehe den Regen niederrinnen
an den Scheiben aus Glas.
An den Scheiben aus Glas rinnt das Wasser
und die Ströme seh’n aus wie Finger,
die da draußen nach innen tasten,
mich zu ergreifen.
Mich zu ergreifen tasten sie,
doch bin ich in Sicherheit.
Die Tropfen seh’n aus wie Gesichter
so bleich, als würden sie leiden.
So bleich, als würden sie leiden
als gäb’s keine Rettung für sie
denn sie müssen draußen bleiben
und der Sturm pfeift dazu ein Lied.
Der Sturm pfeift dazu ein Lied,
die Fenster klirren zuweilen,
die Bäume biegen sich weit,
die Äste stöhnen im Sturme.
Die Äste stöhnen im Sturme
getaucht in Gewitterlicht.
Der Donner durchdringt das Getöse
lässt mich trotz der Wärme schaudern.
Lässt mich trotz der Wärme schaudern,
doch bliebe ich unberührt,
wären da nicht die Gestalten
die da zucken und beben draußen.
Die da zucken und beben draußen,
ich sehe sie an und ich fühle
schwerdumpfen Schmerz im Magen
und es ruft so laut der Wind.
Es ruft so laut der Wind,
das Licht erlischt im Zimmer.
Blitz und Donner regieren
und draußen zucken Gestalten.
Und draußen zucken Gestalten,
und ich muss sie immerzu sehen.
Am Fenster hängen Tropfen
und der Himmel ist gelbgrau licht.
Der Himmel ist gelbgrau licht
und heller wird’s langsam draußen.
Ein Donner zerreißt noch das Treiben,
die Gestalten sinken hernieder.
Die Gestalten sinken hernieder
und ich fühl mich schrecklich müde.
Vielleicht bin ich eine von ihnen
und tanze wie sie im Regen.
Und tanze wie sie im Regen
während Äste im Sturme stöhnen
während Finger an Fenstern kratzen
während Tropfen wie Tränen sind,
während Tropfen wie Tränen sind.
TEXT DES MONATS NOVEMBER 2024
GUTE GEISTER
Es war einmal ein Mann namens Konstantin, der glaubte felsenfest an die Existenz guter Geister, und das durchaus nicht ohne Grund:
Jedes Mal, wenn er von seiner Arbeit nach Hause kam, stand sein Essen bereits fix und fertig auf dem Tisch.
Wenn seine Wäsche schmutzig war, genügte es, sie in einen Schmutzwäschebehälter zu werfen, und bald darauf fand sie sich frisch gewaschen und gebügelt in seinem Kleiderkasten wieder.
Sämtliche Böden seiner Wohnung waren blitzsauber, die Möbel frei von Staub, und an seinen Wänden gab es nicht einmal die kleinste Spur von Spinnweben.
Sogar um die Beseitigung seiner Abfälle kümmerten sich seine guten Geister, wenn er nicht zu Hause war, und wenn sein Biervorrat zur Neige ging, fand sich stets tags darauf schon wieder eine neue Kiste in seiner Vorratskammer.
Eines Tages nun starb Konstantins Frau urplötzlich und unerwartet an einem Herzinfarkt, und seit ihrem Tod veränderte sich alles in seinem Leben zum Schlechteren:
Wenn er von der Arbeit nach Hause kam, stand nun kein Essen mehr auf dem Tisch, seine Wäsche musste er selber waschen und bügeln, die Böden verdreckten, die Möbel verstaubten und die Zahl der Spinnen an seinen Wänden war Legion.
Auch um seine Biervorräte musste er sich nun selbst kümmern, ebenso wie um die Beseitigung seiner Abfälle, auf die er freilich meistens vergaß.
Schon nach einem knappen Monat war seine Wohnung nicht wiederzuerkennen. Sie glich nun eher der Absteige eines Mietnomaden.
Kein Mensch konnte sich unter diesen Bedingungen mehr wohl fühlen.
„Deine Frau fehlt dir offenbar sehr“, bemerkte ein guter Freund mitfühlend, der ihn in seinem Saustall besuchte.
„Meine Frau fehlt mir überhaupt nicht, wenn du es genau wissen willst“, antwortete er mürrisch. „Nicht genug damit, dass sie gestorben ist, hat mir diese blöde Kuh mit ihrem Tod jetzt auch noch meine guten Geister vergrault.“
TEXT DES MONATS OKTOBER 2024
MEIN WEG
Ich gehe nicht
den krummen Weg
der höflichen Lüge.
Ich gehe
den geraden Weg
der taktlosen Wahrheit.
Die Wegbegleiter
sind mir längst schon
abhandengekommen.
Die Mühen der Ebene
sind die
der Wüste.
TEXT DES MONATS SEPTEMBER 2024
DIE FRAU DES ZAUBERERS
Die Frau des Zauberers ist bezaubernd.
Jeder Mann, der sie erblickt, muss sie begehren.
Jeder Mann, der sie erblickt, begehrt sie.
Die begehrlichen Blicke wildfremder Männer schmeicheln ihrer Eitelkeit, doch dem Zauberer sind sie ein Dorn im Auge.
Er ist eifersüchtig, geradezu krankhaft eifersüchtig.
Am liebsten würde er diese Kerle mithilfe seiner Zauberkraft für ihre Lüsternheit bestrafen, doch leider ist er ein extrem untalentierter Zauberer.
Wenn er jemanden durch einen Zauberspruch in einen Frosch verwandeln möchte, wird ein Krokodil daraus, und wenn er jemandem die Pest an den Hals wünscht, wird eine modische Krawatte daraus.
„Warum bist du immer so eifersüchtig?“, hat ihn seine Frau schon mehrmals gefragt. „Du hast keinen Grund dafür.“
Allein, er glaubt ihr nicht. Und er hat recht.
Eines Tages nämlich, als er von einer Zaubervorstellung nach Hause kommt, ist seine Frau verschwunden, und auf dem Tisch liegt ein Zettel, auf dem geschrieben steht:
„Gar nicht liebe, krankhaft eifersüchtige Niete!
Ich habe Dich wegen eines anderen Mannes verlassen. Es ist aus mit uns. Versuche besser nicht, uns zu finden. Das schaffst Du ja doch nicht.
Deine Ex.‘
„Das werden wir ja sehen“, murmelt er, spricht einen Zauberspruch und findet sich am Gipfel eines Berges wieder, der rein zufällig so ähnlich heißt wie seine Frau.
Es ist eiskalt hier oben. Daher wünscht er sich hinunter zum Fuß des Berges, wo er nach einem freien Fall von fünfundvierzig Sekunden ankommt und mit zerschmetterten Gliedern liegen bleibt.
Mit letzter Kraft murmelt er einen Zauberspruch, der ihn eigentlich von seinen Verletzungen hätte heilen sollen.
Stattdessen trägt er plötzlich eine modische Krawatte und ist mausetot.
„Na, wenigstens können wir jetzt auch kirchlich heiraten“, sagt seine Ex zu ihrem neuen Lover, als sie davon erfährt.
„Nur, wenn es unbedingt sein muss“, sagt er. „Weil eigentlich bin ich Buddhist.“
TEXT DES MONATS AUGUST 2024
STOLZ
Wenn du findest,
dass ich störe,
dass ich nicht
zu dir gehöre,
wenn du mit dem Finger
hin zur Türe deutest,
nun, dann geh ich,
nun, dann geh ich,
nun, dann werd ich eben gehen.
Soll ich gehen,
werd ich gehen,
soll ich bleiben,
werd ich bleiben,
es liegt ganz bei dir,
das zu entscheiden.
Ich will bleiben,
ich will bleiben,
doch wenn du mich fortschickst, geh ich.
Doch wenn du dann
später anrufst,
wenn du sagst,
dass es dir leid tut
und mich bittest, doch zu dir
zurückzukommen,
werd ich dennoch,
werd ich dennoch,
werd ich dennoch ferne bleiben.
Jeder Mensch
macht manchmal Fehler.
Jeden könnt ich dir
verzeihen,
doch ein Schlussstrich
gilt für mich für immer.
Diese Grenze,
diese Grenze,
könnt ich nie mehr überschreiten.
TEXT DES MONATS JULI 2024
DER STOLZE VATER
Es war einmal ein Vater, der hatte vier Kinder, drei Söhne und eine Tochter, auf die er alle sehr stolz war.
Sein ältester Sohn war Arzt und hatte ein Heilmittel gegen Krebs entwickelt, das unzähligen Menschen das Leben gerettet hatte. Sein zweiter Sohn war Strafverteidiger und hatte schon unzählige Angeklagte vor dem sicheren Gefängnis bewahrt.
Sein dritter Sohn war Bäcker und buk das mit Abstand leckerste Gebäck weit und breit.
Und seine Tochter war die beste Prostituierte im ganzen Land. Nach einem Besuch bei ihr waren ihre Kunden immer so zufrieden, dass ihnen allein schon der Gedanke an Sex noch wochenlang Brechreiz verursachte.
Eines Tages nun lud der stolze Vater seine vier Kinder zu sich ein und sprach zu ihnen wie folgt:
„Meine lieben Kinder, ich bin stolz auf euch. Du, mein ältester Sohn, hast durch dein segensreiches Wirken als Arzt schon vielen Menschen das Leben gerettet. Du, mein zweiter Sohn, hast als Strafverteidiger schon unzählige Mandanten vor dem sicheren Gefängnis bewahrt.
Und du, meine Tochter, giltst als beste Prostituierte dieses Landes.
Auch du, mein dritter Sohn, bist als Bäcker durchaus ein nützliches Mitglied der Gemeinschaft, doch im Vergleich mit deinen Geschwistern bist du eigentlich, verzeih mir meine Offenheit, ein ziemlicher Versager. Aber noch ist es nicht zu spät für einen Berufswechsel. Was würdest du beispielsweise davon halten, das Bäckerhandwerk an den Nagel zu hängen und ein berühmter Filmschauspieler zu werden?“
„Das könnte ich freilich tun“, sagte der Bäcker. „Aber dann müssten meine treuen, zufriedenen Kunden mit dem minderwertigen Backwerk meines Nachfolgers vorlieb nehmen, und das würden sie mir vermutlich sehr verübeln. Davon abgesehen scheinst du die Leistungen meiner Geschwister doch erheblich zu überschätzen.
Freilich stimmt es, dass mein ältester Bruder durch sein Heilmittel gegen Krebs schon vielen Menschen das Leben gerettet hat, doch kaum einer der Geretteten hat die zusätzliche Lebenszeit wirklich sinnvoll genützt.
Es ist auch richtig, dass mein zweiter Bruder als Strafverteidiger unzählige Menschen vor dem sicheren Gefängnis bewahrt hat, doch die meisten von ihnen waren gefährliche Kriminelle, die durch das Wirken meines Bruders auch weiterhin Mord und Todschlag verüben konnten – und Schlimmeres.
Und was dich, liebe Schwester, anbetrifft, so bist du zweifellos die beste Prostituierte im ganzen Land, doch hast du gerade dadurch, dass deine Klienten nach einem Besuch bei dir so zufrieden sind, dass ihnen der Gedanke an Sex noch wochenlang Brechreiz verursacht, schon zahllose Ehen gefährdet, wenn nicht sogar zerstört.
Ich hingegen gebe mich damit zufrieden, knuspriges Gebäck zu backen, das mit Sicherheit noch keinem Menschen geschadet hat.
So gesehen bin ich vielleicht sogar der Nützlichste deiner Kinder, Vater.“
„Da hast du eigentlich vollkommen recht“, sagte der Vater. „Verzeih, dass ich an dir gezweifelt habe. Für dich gibt es heute einen Kalbsbraten. Ihr anderen aber seid in Wahrheit alle eine Schande für meinen Namen. Verlasst also dieses Haus und kommt nie wieder, denn ihr seid mir nicht länger willkommen.“
TEXT DES MONATS JUNI 2024
DAS GUT VON MIR
Das Gut von mir
ist nicht das Gut von dir
und nicht das Gut von ihr
und nicht das Gut
von sonstnochwem.
Das Glück von mir
ist nicht das Glück von dir
und nicht das Glück von ihr
und nicht das Glück
von sonstnochwem.
Die Zeit von mir
ist nicht die Zeit von dir
und nicht die Zeit von ihr
und nicht die Zeit
von sonstnochwem.
Das Ziel von mir
ist nicht das Ziel von dir
und nicht das Ziel von ihr
und nicht das Ziel
von sonstnochwem.
Der Tod von mir
ist nicht der Tod von dir
und nicht der Tod von ihr
und nicht der Tod
von sonstnochwem.
Es ist mein eigener Tod.
Nach Gut und Glück,
nach Zeit und Ziel
ist es
mein eigener Tod.
TEXT DES MONATS MAI 2024
DREI MÜTTER
Es waren einmal drei Mütter, die ritten auf drei Kälbern hinaus in die weite Welt.
„Wer kümmert sich eigentlich um eure Kinder, während ihr unterwegs seid?“, fragte schließlich eine von ihnen die beiden anderen, nachdem sie bereits einen Tag lang unterwegs waren.
„Um Gottes willen. Keiner!“, riefen die beiden Mütter. „Und wer kümmert sich um dein Kind?“
„Um Gottes willen. Keiner!“, rief die Mutter.
So schnell ihre Kälber sie trugen kehrten die drei Mütter nach Hause zurück, doch dort fehlte von ihren Kindern jede Spur.
„Möglicherweise haben die Väter ihre Kinder zu sich genommen“, vermutete eine der Mütter.
„Ja. Das könnte sein“, sagten die beiden anderen.
Gemeinsam machten sie sich auf die Suche nach den Vätern.
Als sie die Väter fanden, waren diese gerade damit beschäftigt, weitere Kinder zu zeugen.
„Was wollt ihr denn hier?“, fragten die Väter.
„Wir sind auf der Suche nach unseren Kindern“, erklärte eine von ihnen. „Habt ihr sie vielleicht zu euch genommen?“
„Nein, das haben wir nicht“, antwortete einer der Väter stellvertretend für alle drei. „Habt ihr sie etwa verloren?“
„Sieht ganz so aus“, sagte eine der Mütter.
„Wenn ihr die Kinder nicht mehr habt, dann brauchen wir auch keine Alimente mehr für sie zu bezahlen“, sagte einer der Väter stellvertretend für alle drei. „So lebt denn wohl und lasst und fürderhin in Ruhe.“
Traurig und enttäuscht kehrten die drei Mütter nach Hause zurück, wo von den Kindern immer noch jede Spur fehlte.
„Ich glaube, ich weiß, was geschehen ist“, sagte die eine von ihnen schließlich. „Bis vor Kurzem hatten wir drei Kinder, aber keine Kälber. Und jetzt haben wir drei Kälber, aber keine Kinder mehr. Wahrscheinlich haben sich unsere Kinder in Kälber verwandelt.“
„Ja. Das erklärt alles. So muss es gewesen sein“, sagten die beiden anderen.
Und dann entblößten die drei Mütter ihre Brüste, und die Kälber traten zu ihnen hin und tranken davon.
„Na, gottseidank“, sagte eine der drei Mütter. „Dann ist ja jetzt alles wieder gut.“
„Ja. Gottseidank“, sagten die beiden anderen.
Aber wirklich glücklich und zufrieden war keine von ihnen mit dem Ausgang dieser Geschichte.
TEXT DES MONATS APRIL 2024
KEINER SOLLTE EINSAM SEIN
Keiner sollte einsam sein
im Sommer.
Die Seerose nicht
im kühlen Teich
und auch nicht die Libelle,
die darüber kreist.
Keiner sollte einsam sein
im Sommer.
Der Kaisermantel nicht
im tiefen Wald
der Eichelhäher nicht
auf seinem Baum.
Keiner sollte einsam sein
im Sommer.
Der Rehbock nicht
im frühen Morgenlicht
und nicht der Fuchs
in seinem Bau.
Keiner sollte einsam sein
im Sommer.
Die Tür ist nicht versperrt,
doch meilenweit entfernt.
Der nächste Mensch
ist nicht von dieser Welt.
TEXT DES MONATS MÄRZ 2023
DER ZEITLOSE RAUM
In meinem Haus gibt es einen winzig kleinen, fensterlosen Raum, nicht größer als eine Besenkammer, in dem die Zeit nicht vergeht.
Könnte ich mich in diesen Raum zurückziehen, um ihn nie wieder zu verlassen, so würde ich ewig leben.
Das ist freilich nicht möglich, denn ich muss arbeiten, um zu essen, und schlafen, um zu leben.
Würde ich in dem Raum meine Nächte verbringen, so könnte ich dadurch meine Lebenszeit um ein gutes Drittel verlängern, doch leider ist er viel zu klein für ein Bett. Sein gesamtes Mobiliar besteht aus einem einfachen Holzsessel.
Könnte ich meinen Computer dort aufstellen, mit dem ich meine Texte schreibe, so wäre auch dadurch viel Zeit gewonnen, doch gibt es in dem zeitlosen Raum keinen einzigen Stromanschluss, weil jede Form von Elektrizität seine Magie sofort und für immer zerstören würde.
Daher begnüge ich mich notgedrungen damit, mich hin und wieder dorthin zurückzuziehen, um im flackernden Schein einer Kerze Gedichte zu schreiben.
Genau genommen handelt es sich dabei also um zeitlose Gedichte, entstanden in einem Raum ohne Vergangenheit und Zukunft.
Weil aber ich selbst ein Kind meiner Zeit bin, so sind auch sie nichts weiter als Gedichte eines Kindes seiner Zeit, dessen Lebenszeit begrenzt ist, so wie die der brennenden Kerze, in deren flackerndem Schein ich sie geschrieben habe.