LETZTE AKTUALISIERUNG AM 27. Januar 2023
TEXT DES MONATS FEBRAR 2023
HUNDESCHWÄNZE
Wären unsere Politiker
wie Hundeschwänze,
sie säßen nicht im Parlament,
sondern am Hintern von Hunden.
Wären unsere Politiker
wie Hundeschwänze,
so würden sie wedeln,
statt Reden zu halten.
Wären unsere Politiker
wie Hundeschwänze,
sie wären loyal
und unbestechlich.
Wären unsere Politiker
wie Hundeschwänze,
sie wären nicht fähig
zu Täuschung und Lüge.
Ach, wären sie doch
Hundeschwänze!
TEXT DES MONATS JANUAR 2023
SCHWARZWEISS
Die Zeit des Schwarzweißfilms ist vorbei.
Die Zeit der Schwarzweißmaler hat wieder begonnen.
Selbsternannte Tugendwächter beurteilen unser Verhalten.
Sie allein haben vom Baum der Erkenntnis gegessen.
Sie allein kennen den Unterschied zwischen Gut und Böse.
Sie bestimmen, wer auf der richtigen Seite steht und wer auf der falschen.
Wer auf der richtigen Seite steht, ist ohne Fehl und Tadel.
Wer auf der falschen Seite steht, ist ein Satan und ein Verbrecher.
Es gibt nur noch Faktenchecker und Schwurbler.
Die Faktenchecker sind selbst dann im Recht, wenn sie nicht Fakten checken, sondern Meinungen interpretieren.
Die Schwurbler sind selbst dann im Unrecht, wenn sie noch vor wenigen Jahren auf ihrem Gebiet als Kapazitäten von Weltruf galten.
Aus den Pazifisten von gestern sind die Kriegshetzer von heute geworden.
So wie zu Beginn des Ersten Weltkriegs propagieren die Linken wieder den Krieg und das Blutvergießen, sofern es das richtige Blut ist, das vergossen wird, als wäre nicht jedes Leben kostbar und schützenswert.
Je länger der Krieg gegen Russland andauert, je mehr russisches Blut darin vergossen wird, desto gerechter wird er.
Je mehr die eigene Bevölkerung unter den Folgen der gegen Russland verhängten Sanktionen leidet, desto alternativloser werden sie, denn hier geht es nicht um Macht und Wirtschaftsinteressen, sondern um den ewigen Kampf Gut gegen Böse, Ahura Mazda gegen Ahriman.
Wer den Feind versteht, ist selber einer.
Tag für Tag werden unsere Werte in der Ukraine verteidigt, bis zu ihrer vollständigen Entwertung.
Ich sehe nicht schwarz und nicht weiß. Ich sehe grau.
Mir graut vor der Gegenwart.
TEXT DES MONATS DEZEMBER 2022
UNSERE KINDER
Unsere Kinder
sind unsichtbar.
Sie lassen sich
kaum noch blicken.
Unsere Kinder
sind unhörbar.
Sie rufen
kaum noch an.
Unsere Kinder
sind unfühlbar.
Sie lassen sich
kaum noch berühren.
Unsere Kinder
sind wortlos.
Ihr Leben
ist ihr Tabu.
Unsere Kinder
sind ratlos.
Den unseren
brauchen sie nicht.
Unsere Kinder
sind lieblos.
Mit der Lizenz
zum Kränken.
Als hätten wir
sie nie
auf Händen
getragen.
Als hätten wir
sie nie
gefüttert, gewickelt,
getröstet.
Als hätten wir
sie nie
mehr als uns selbst
geliebt.
TEXT DES MONATS NOVEMBER 2022
DER LEDERMANTEL
Es war einmal ein Zuhälter, der hatte einen Ledermantel, den er über alles liebte.
Um ihn kaufen zu können, hatten seine drei Damen nicht weniger als dreihundert Freier bedienen müssen, denn der Mantel bestand aus dem Leder dreier Schlangenarten, die mittlerweile bereits ausgestorben waren.
Wenn der Zuhälter, mit seinem Ledermantel bekleidet, in seinem Maserati, der sogar noch etwas teurer gewesen war, durch die Straßen der nächtlichen Stadt raste, fühlte er sich wie der Herr der Welt.
Eines Tages aber geschah es, dass ein Freier, den der Zuhälter berufsbedingt wegen Zahlungsunwilligkeit verprügeln musste, dabei versehentlich den sündteuren Ledermantel anblutete, worüber der Zuhälter so sehr in Rage geriet, dass er den Unglücksraben kurzerhand erstach.
Um den Vorfall zu vertuschen, blieb dem Zuhälter nichts anderes übrig, als den für die Ermittlungen zuständigen Polizeibeamten mit dem Gegenwert von hundert Sexualakten zu bestechen.
Seine drei Damen murrten zwar über die zusätzlichen Arbeitsstunden, die er ihnen dafür abverlangte, doch weil sie aus leidvoller Erfahrung wussten, wie unangenehm er werden konnte, wenn ihm etwas gegen den Strich ging, zogen sie es letztlich vor, sich zu fügen.
Nachdem der Ledermantel zum Preis von acht weiteren Geschlechtsverkehren chemisch gereinigt worden war, sah er wieder aus wie neu.
Nun konnte unser Zuhälter also wieder, mit seinem Ledermantel bekleidet, in seinem Maserati durch die nächtlichen Straßen der Stadt rasen und sich dabei wie der Herr der Welt fühlen, genau wie zuvor.
Einem Verkehrspolizisten, der ihn dabei aufhielt, um ihn wegen Geschwindigkeitsübertretung zu belangen, bot er an, dessen Leben zu kaufen, doch dieser begnügte sich damit, ein Strafmandat in Höhe von fünf bezahlten Schäferstündchen einzukassieren, was dem Zuhälter nur recht sein konnte, denn das Leben des Beamten wäre natürlich erheblich teurer gewesen.
Somit war alles wieder in bester Ordnung.
Der Zuhälter hätte eigentlich glücklich und zufrieden sein können, und das war er auch, doch leider wurde er nur eine Woche später von einem Berufskollegen wegen irgendeiner unbedeutenden Meinungsverschiedenheit auf offener Straße erschossen.
Nicht weniger als fünf Kugeln durchbohrten Brust und Bauch, und seine letzten Worte waren:
„Du verdammtes Arschloch! Der schöne Mantel!“
TEXT DES MONATS OKTOBER 2022
SCHWEIGEND
Schweigend schreite ich dahin
auf menschengemachten Wegen
hinauf in alte Berge
hinab in gefährdete Täler.
Schweigend schreite ich dahin
auf menschengemachten Wegen
durch Dörfer und Märkte,
durch Städte und Metropolen.
Schweigend schreite ich dahin
auf menschengemachten Wegen
hinauf zur Freude
hinab zur Enttäuschung.
Schweigend schreite ich dahin
auf menschengemachten Wegen
durch Jugend und Alter,
Wachheit und Traum.
TEXT DES MONATS SEPTEMBER 2022
DAS BLINDE MÄDCHEN
Es war einmal ein armes, blindes Mädchen, das tappte mutterseelenallein durch einen großen, finsteren Wald, weil seine Mutter ihm befohlen hatte, seiner Großmutter, die jenseits des Waldes in einer armseligen kleinen Hütte wohnte, einen Kuchen und eine Flasche Wein zu bringen.
Normalerweise hätte es sich bestimmt schon bald hoffnungslos verirrt und nie wieder aus dem Wald herausgefunden, doch wiesen ihm die Vögel mit ihrem Gezwitscher den Weg.
Nachdem das Mädchen eine Stunde lang gegangen war, begegnete ihm ein großer, böser Wolf.
„Gib mir etwas zu fressen!“, befahl der Wolf.
„Wer spricht denn da?“, fragte das blinde Mädchen.
„Aber das siehst du doch.“
„Nein, leider nicht. Ich bin blind.“
„Ach, so ist das. Also, ich bin ein großer, böser Wolf.“
„Aber Wölfe können doch nicht sprechen!“, wandte das Mädchen ein.
„Normalerweise nicht“, bestätigte der Wolf. „Aber ich habe derzeit gerade eine ganz schreckliche Stimmritzenentzündung, weshalb mein drohendes Knurren fast genauso klingt wie eure Sprache. Kriege ich jetzt endlich was zu fressen?“
„Ich habe leider nur einen Kuchen dabei“, antwortete das blinde Mädchen. „Und den soll ich der Großmutter bringen.
„Dann gib mir wenigstens diesen Kuchen, sonst fresse ich dich“, sagte der Wolf.
„Also gut“, seufzte das Mädchen und gab dem Wolf den Kuchen, der ihn sogleich gierig verschlang. Und während das blinde Mädchen ohne Kuchen weiterging, starb der Wolf unter schrecklichen Qualen, denn der Kuchen war vergiftet, weil die Mutter für die Großmutter eine sehr hohe und für ihre Tochter eine etwas weniger hohe Lebensversicherung abgeschlossen hatte.
Eine weitere Stunde später traf das blinde Mädchen auf einen großen, grimmigen Räuber.
„Na los, her mit dem Geld!“, befahl der Räuber.
„Wer spricht denn da?“, fragte das Mädchen.
„Aber das siehst du doch.“
„Nein, leider nicht. Ich bin blind.“
„Ach, so ist das. Also, ich bin ein großer, grimmiger Räuber. Und jetzt gib mir dein Geld.“
„Ich habe aber leider gar kein Geld dabei“, antwortete das blinde Mädchen. „Nur eine Flasche Wein, und die soll ich der Großmutter bringen.
„Na gut, dann gib mir wenigstens den Wein. Sonst töte ich dich“, drohte der große, grimmige Räuber.
„Also gut“, seufzte das Mädchen und übergab ihm die Flasche.
Der große, grimmige Räuber öffnete sie und tat einen tiefen Schluck daraus.
„Schmeckt irgendwie bitter“, stellte er fest. „Aber besser als gar nichts. Na los, verschwinde.“
Und während das blinde Mädchen weiterging, starb auch der große, grimmige Räuber unter schrecklichen Qualen, denn auch der Wein war vergiftet gewesen.
Eine weitere Stunde später kam das blinde Mädchen endlich bei der Großmutter an.
„Was willst du denn hier, dummes Ding?“, fragte die Großmutter unfreundlich.
„Meine Mutter hat mich hergeschickt, um dir Kuchen und Wein zu bringen“, berichtete das blinde Mädchen. „Aber erst hat ein großer, böser Wolf den Kuchen gefressen, und dann hat ein großer, grimmiger Räuber mir auch noch den Wein abgenommen, sodass ich jetzt mit leeren Händen vor dir stehe.“
„Wenn das so ist, dann kannst du gleich wieder gehen“, sagte die Großmutter. „Na los, worauf wartest du noch? Abmarsch!“
„Ganz, wie du willst, liebe Großmutter. Auf Wiedersehen“, sagte das blinde Mädchen.
Auf ihrem Rückweg durch den großen, finsteren Wald begegneten ihr weder Wolf noch Räuber, denn die waren ja alle beide mausetot, und drei Stunden später war sie wieder zu Hause.
„Ich hätte dich eigentlich nicht so früh zurückerwartet“, stellte die Mutter fest. „Hast du etwa nicht hingefunden?“
„Doch, schon“, sagte das blinde Mädchen. „Aber erst hat ein großer, böser Wolf meinen Kuchen gefressen.“
„Verdammte Wölfe!“, fluchte die Mutter.
„Dann hat ein großer, grimmiger Räuber mir auch noch den Wein abgenommen.“
„Verdammte Räuber!“, fluchte die Mutter.
„Und weil ich mit leeren Händen zu ihr kam, hat mich die Großmutter gleich wieder weggeschickt.“
„Ach, so war das also“, sagte die Mutter. „Und warum hast du dich nicht wenigstens hoffnungslos im Wald verirrt?“
„Weil die Vögel mir mit ihrem Gezwitscher den Weg gewiesen haben“, antwortete das blinde Mädchen.
„Verdammte Vögel“, fluchte die Rabenmutter.
TEXT DES MONATS AUGUST 2022
STIGMEN DES ALTERS
In meinen Ohren
rauscht das Meer.
Im Sommer
ist es der Attersee.
Auf meiner Stirn
sind Schlittenspuren.
Im Winter
sind sie tiefer.
Auf meinen Händen
blühen Blumen.
Im Sommer
werden sie braun.
Auf meinem Kopf
glitzern Spinnenfäden.
Im Herbst
fliegen sie davon.
TEXT DES MONATS JULI 2022
JASMIN
Es war einmal ein wunderschönes junges Mädchen namens Jasmin, das wurde von einer bösen, hässlichen Hexe in eine Blume verwandelt, die auf einer bunten Frühlingswiese blühte.
Kurz darauf kam ein kleiner Junge des Wegs und pflückte die Blume, um seiner Mutter damit eine Freude zu machen.
Seine Mutter bedankte sich bei ihm, stellte die Blume in eine Vase und dachte nicht mehr an sie, und schon am nächsten Morgen war die Blume welk und ließ traurig ihr Köpfchen hängen.
Als der kleine Junge bemerkte, in welchem Zustand sie sich befand, bereute er, was er getan hatte.
„Bitte sei mir nicht böse, du arme Blume“, sagte er zu ihr. „Wenn ich gewusst hätte, dass du so schnell verwelkst, hätte ich es bestimmt nicht getan. Kann ich dir irgendwie helfen?“
Da war es ihm, als würde die Blume in seinem Kopf antworten.
„Ja, das kannst du“, sagte sie. „In Wirklichkeit bin ich nämlich keine Blume, sondern ein junges Mädchen. Wenn du mich aber küsst, obwohl ich nur eine Blume bin, werde ich meine menschliche Gestalt zurückgewinnen.“
„Das mache ich“, sagte der kleine Junge, küsste die Blume und schon im nächsten Augenblick stand eine alte Frau vor ihm.
„Warum bist du so alt?“, fragte er verwundert. „Du hast doch gesagt, dass du ein junges Mädchen bist!“
„Das war ich auch“, sagte Jasmin traurig. „Aber offenbar bin ich als Blume sehr schnell gealtert. Jetzt, da ich mich so sehe, wünschte ich fast, ich wäre bis an mein Ende eine Blume geblieben.“
„Kann man dich nicht irgendwie wieder jung machen?“, fragte der kleine Junge.
„Nein. Das ist leider nicht möglich“, antwortete Jasmin. „Alles, was ich jetzt noch tun kann, ist, die Hexe darum zu bitten, mich ein zweites Mal zu verwandeln.“
Und das tat sie auch.
„Was willst du von mir, alte Frau?“, fragte die Hexe, als Jasmin ihr Hexenhaus betrat.
„Erkennst du mich denn nicht mehr?“, fragte Jasmin. „Ich bin das junge Mädchen, das du in eine Blume verwandelt hast. Und ich wollte dich bitten, es ein zweites Mal zu tun, weil ich meinen Anblick nicht ertrage.“
„Das kann ich verstehen“, sagte die Hexe. „Es ist nicht leicht, alt zu werden, wenn man so schön war wie du. Also gut. Ich werde dir deine Bitte erfüllen.“
Sie murmelte einen Zauberspruch, und gleich darauf stand Jasmin wieder als Blume auf einer blühenden Frühlingswiese, jedoch nicht weniger welk als am Morgen.
„Das ist das Ende“, dachte Jasmin. „Bald werde ich ganz und gar verblüht sein, und dann werde ich sterben.“
In diesem Moment landete eine Biene auf ihr, trug etwas von ihrem Blütenstaub mit sich fort, und als sie ihn an einer anderen Blüte wieder abstreifte, wurde mit einem Male ein kleines Menschenkind daraus, nicht größer als ein Fingernagel.
Eine junge Frau kam an der Wiese vorbei und hörte ein Kind weinen.
Sie folgte dem Geräusch, fand das winzig kleine Wesen im Grase liegen und nahm es mit nach Hause, und da sie und ihr Mann keine eigenen Kinder bekommen konnten, betrachteten sie es als Geschenk Gottes und hatten es vom ersten Tag an von Herzen lieb.
Unter der liebevollen Obhut ihrer Pflegeeltern erreichte das kleine Wesen schon bald die Größe normaler Menschenkinder und wuchs im Lauf der Jahre zu einem wunderschönen jungen Mädchen heran, das sich selbst Jasmin nannte.
Eines Tages nun begegnete ihr auf dem Dorfplatz eben jener kleine Junge, der sie einst als Blume gepflückt hatte und der inzwischen längst erwachsen geworden war.
Er blieb stehen und betrachtete sie nachdenklich.
„Kennen wir uns nicht von irgendwoher?“, fragte er sie.
„Nein. Ich glaube nicht“, antwortete sie nur und ging ihrer Wege.
TEXT DES MONATS JUNI 2022
ABRECHNUNG
TEXT DES MONATS MAI 2022
EINDIMENSIONAL
Nehmen wir einmal an, es gäbe nur eine einzige Dimension, zum Beispiel die Länge.
In diesem Fall wäre das unermessliche Weltall nichts anderes als eine sehr, sehr lange Linie. Unser Sonnensystem wäre eine lange Linie, Bestandteil der sehr, sehr langen Linie. Unsere Erde wäre nichts weiter als eine Linie, und alle Lebewesen auf ihr wären nur Linien, kurze, sehr kurze und sehr, sehr kurze.
Es wäre für uns Menschen ausgesprochen schwierig, aneinander vorbeizukommen, weil wir dazu eine zweite Dimension benötigten, Höhe oder Breite.
Die einzige Möglichkeit dazu bestünde in einer vorübergehenden Vereinigung der eigenen Linie mit der des Nächsten, wobei sich die berechtigte Frage stellt, ob eine derartige Vereinigung nicht dauerhafte Veränderungen bewirken würde.
Jede Zeugung wäre eine vorübergehende Verschmelzung zweier Linien, jede Geburt wäre die Abtrennung einer kurzen Linie von einer zu größerer Länge angewachsenen.
Und wenn ein Mensch stürbe, so könnte man ihn nicht begraben.
Man könnte ihn höchstens in einen wenig frequentierten Bereich der Linie verschieben, doch auf dem Weg dorthin müssten alle Lebewesen, die ihm begegnen, vor ihm zurückweichen oder aber sich vorübergehend mit ihm vereinigen, und dabei würde wohl so manches in ihnen absterben.
Es wäre ein unsagbar armseliges Leben, das wir führen müssten, gäbe es nur eine einzige Dimension, und doch würden wir die anderen Dimensionen nicht vermessen, weil sie uns unbekannt wären.
Man kann nur vermissen, was man kennt.
Was man nicht kennt, kann man auch nicht vermissen.
Und das gilt auch für unsere vierdimensionale Welt, die voller Rätsel ist.
TEXT DES MONATS APRIL 2022
AN DEN NORDEN
Ich bin einsam
unter der Esche Yggdrasil,
ich bin einsam
unter euch
Und wenn ein Wort
den Namen jener Fremdheit nennt,
so werde ich
es niemals finden.
Denn auch kein Flehen
um Vergebung,
das mir selber spottet;
wird mehr geglaubt.
Ein Lichtauge
wurde geschenkt
von einem Gott,
und niemals wurde es gesehn.
So schenke ich dem Alkohol
den Götzendienst meines Gemüts
und sterbe, wenn der Morgen naht,
die sieben Tode der Seele.
TEXT DES MONATS MÄRZ 2022
DAS UNFALLOPFER
Ich befand mich gerade auf einem Abendspaziergang und meditierte über die Schlechtigkeit meiner Mitmenschen und das Ignorantentum aller Literaturkritiker, als ich hinter mir etwas laut krachen hörte.
Leicht verärgert über die Störung drehte ich mich um und sah ein Auto, das soeben von einem ihm im Weg stehenden Baum erheblich beschädigt worden war.
‚Das könnte ein geeigneter Stoff für eine Kurzgeschichte sein - oder wenigstens für ein Gedicht’ überlegte ich und ging hin, um nach dem Fahrer zu sehen.
Dieser hatte einige Schnittwunden erlitten, unter anderem war die Schlagader der rechten Hand verletzt. Das Blut floss in Strömen.
Ich mag so was gar nicht. Ich kann nämlich kein Blut sehen.
Der Mann saß immer noch in seinem Fahrzeug und machte auch keine Anstalten, auszusteigen. Offenbar hatte er einen Schock erlitten.
„Ist Ihnen etwas passiert?“, fragte ich ihn durchs geborstene Seitenfenster.
„Ja“ antwortete er: „Mein Arm. Bitte verbinden Sie mich. Ein Druckverband.“
„Tut mir leid, aber von so was verstehe ich leider nichts“, antwortete ich. „Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Prinzipiell können Sie selbstverständlich mit meiner Hilfe rechnen, aber wenn ich etwas nicht kann, dann lasse ich lieber die Finger davon.“
„Bitte. Es ist gar nicht so schwer, das können Sie ganz bestimmt. Helfen Sie mir.“
„Ich würde Ihnen wirklich gern helfen, ehrlich, aber was ist, wenn ich etwas falsch mache? Dann bin ich womöglich Schuld daran, dass Sie sterben und hätte für den Rest meines Lebens die schlimmsten Schuldgefühle deswegen. Und ich mache bestimmt etwas falsch, schon allein deshalb, weil ich kein Blut sehen kann.“
„Dann holen Sie wenigstens die Rettung, schnell!“
„Selbstverständlich. Aber ich habe leider kein Handy dabei, weil ich Handys nicht ausstehen kann, und bis zur nächsten Telefonzelle sind es mindestens drei Kilometer.“
„In dem Haus, gleich dort drüben! Bestimmt haben die ein Telefon!“
„Aber das geht doch nicht, ich kann doch nicht einfach wildfremde Leute belästigen! Womöglich halten die mich dann für einen Räuber, der sich mit einem billigen Trick Zutritt zu ihrem Haus verschaffen will, so was ist schon oft vorgekommen, zum Beispiel in dem Film ‚Uhrwerk Orange’ von Stanley Kubrick. Ich weiß natürlich nicht, ob Sie sich für Filme interessieren, aber jedenfalls ist der Hauptheld, Alex, gerade wieder einmal mit seinen Droogs unterwegs und klingelt...“
„Aber das hier ist ein Notfall! Versuchen Sie es doch bitte wenigstens!“
„Warum versuchen Sie es denn nicht selbst? Ihnen würde man viel eher glauben als mir, weil Sie ja wirklich verwundet sind.“
„Ich kann nicht. Ich bin wie gelähmt. Der Schock. Der Blutverlust. Schnell, verbinden Sie mich, sonst ist es zu spät, sonst verblute ich!“
„Ach was. So schnell verblutet man auch wieder nicht. Man soll nicht immer gleich das schlimmste denken, mit einer positiven Lebenseinstellung kommt man viel weiter. Also gut. Ich werde es versuchen. Wo ist Ihr Verbandskasten?“
„Da. Im Handschuhfach.“
„Gut. Also ein Druckverband, haben Sie gesagt. Was braucht man dazu?“
„Zunächst einmal ein Tuch.“
„Dieses?“
„Das ist doch ganz egal, welches! Legen Sie es auf die Wunde.“
„Also auf die Wunde. Pfui, wie das blutet! Igittigitt!“
„Ja, denken Sie etwa, mir macht das Spaß?“
„Bestimmt nicht. Das glaube ich Ihnen, dass Ihnen das keinen Spaß macht. Mir aber auch nicht. Und was jetzt?“
„Den Polster da draufhalten.“
„Den Polster... uh, das viele Blut... nein, ich schaff es nicht. Tut mir leid, ich schaff es einfach nicht.“
„Idiot!“, brüllte er.
„Also, beleidigen lasse ich mich nicht von Ihnen“, stellte ich gekränkt fest. „Da helfe ich Ihnen, so gut ich kann, und was tun Sie? Sie brüllen mich an. Aber nicht mit mir, mein Herr, nicht mit mir!
Schauen Sie, wie Sie allein zurechtkommen! Ich gehe. Das habe ich nämlich wirklich nicht nötig, mich von Ihnen beleidigen zu lassen. Guten Tag.“
Er versuchte, sich zu entschuldigen, aber ich stellte mich taub und ging einfach weiter.
Als ich nach etwa einer halben Stunde wieder vorbeikam, wurde der Mann gerade in einen Sarg gelegt und zu einem Leichenwagen getragen.
Eine Tragödie.
Oh Auto, wie viel Unglück hast du schon verschuldet!
Spontan beschloss ich, ein Essay über die negativen Aspekte des Straßenverkehrs zu schreiben, denn vom Schreiben verstehe ich etwas.